Kleine Grenzen – große Wirkung! - räuber:mädchen
Mein Mann und ich sitzen auf einer Terrasse einer Hütte in den beeindruckenden Südtiroler Dolomiten. Die frische Bergluft erfüllt unsere Lungen, während wir die Aussicht genießen. Es ist ein geschäftiger Tag, Gäste und Kellner*innen laufen hin und her, und die Geräusche von fröhlichem Lachen und klirrendem Geschirr füllen die Luft. Unsere kleinste Tochter, die gerade einmal drei Jahre alt ist, kommt von der Toilette zurück. Sie bleibt kurz beim Eingang stehen, um sich zu orientieren und herauszufinden, wo wir sitzen. In diesen wenigen Sekunden, in denen sie versucht, uns zu finden, laufen vier Menschen an ihr vorbei. Drei dieser Menschen berühren sie dabei unaufgefordert an Kopf, Gesicht und Bauch.
Unser kleines Mädchen wehrt sich nicht dagegen, sie scheint es einfach hinzunehmen. Diese Situation ließ mich innehalten und machte mich nachdenklich. Wie oft und wie schnell werden im Alltag die Grenzen von Kindern überschritten? Für uns Erwachsene sind es manchmal gut gemeinte Gesten oder Grenzsetzungen, die wir in unserer Erziehung vornehmen. Doch würden wir als Erwachsene es jemals akzeptieren, wenn uns jemand beim Vorbeigehen einfach ins Gesicht fasst? Natürlich nicht. Doch Kinder hinterfragen dies oft nicht, weil sie es gewöhnt sind, dass die Erwachsenen das Sagen haben.
Im Kontext von sexualisierter Gewalt und sexuellem Missbrauch wollen wir, dass unsere Kinder für sich einstehen, weglaufen, Hilfe holen oder Nein sagen. Doch wie sollen Kinder wissen, wann sie zu Erwachsenen Nein sagen müssen und wann sie sich fügen sollen? Diese widersprüchlichen Botschaften können für Kinder sehr verwirrend sein. Einerseits ermutigen wir sie, nett zu lächeln, bitte und danke zu sagen, und wir schimpfen sie, wenn sie unfreundlich zu Fremden sind. Andererseits erwarten wir von ihnen, dass sie in potenziell gefährlichen Situationen selbstbewusst Grenzen setzen.
Diese Diskrepanz wirft wichtige Fragen auf: Wie können wir unseren Kindern beibringen, ihre eigenen Grenzen zu erkennen und zu verteidigen, ohne sie gleichzeitig zu verunsichern? Wie schaffen wir eine Balance zwischen höflichem Verhalten und dem nötigen Selbstschutz? Es ist entscheidend, dass wir als Eltern und Erziehungsberechtigte unseren Kindern von klein auf beibringen, dass ihr Körper ihnen gehört und dass niemand das Recht hat, ihn ohne ihre Zustimmung zu berühren.
Wir sollten ihnen auch klar machen, dass es immer in Ordnung ist, Nein zu sagen – unabhängig davon, ob es sich um einen Freund, einen Verwandten oder sogar einen Fremden handelt. Indem wir unseren Kindern diese wichtigen Lektionen vermitteln, geben wir ihnen die Werkzeuge an die Hand, die sie benötigen, um sich in der Welt sicher und selbstbewusst zu bewegen. Es ist auch unsere Verantwortung, ein Umfeld zu schaffen, in dem Kinder sich sicher fühlen, ihre Grenzen zu setzen, ohne Angst vor negativen Konsequenzen zu haben.
Die Szene auf der Terrasse der Hütte in den Südtiroler Dolomiten hat mir einmal mehr vor Augen geführt, wie wichtig es ist, wachsam zu sein und aktiv daran zu arbeiten, die Autonomie und den Selbstschutz unserer Kinder zu stärken. Jedes Kind sollte das Recht haben, sich in der eigenen Haut sicher und respektiert zu fühlen.
Indem wir aufmerksam sind und respektvoll mit den Grenzen unserer Kinder umgehen, können wir dazu beitragen, eine Kultur des Respekts und der Achtsamkeit zu fördern – nicht nur für unsere Kinder, sondern für alle Mitglieder unserer Gesellschaft. Es ist eine Herausforderung, die Zeit und Engagement erfordert, aber sie ist es wert, für die Sicherheit und das Wohlbefinden unserer Kinder.

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